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Schwäche zeigen ist Stark!

„Warum hat Sie nichts gesagt?“, „Wieso hat er nicht mit mir geredet?“. Solche und ähnliche Sätze sind häufig von Angehörigen eines Suizidopfers zu hören.

Fragen, Vorwürfe und Emotionen kommen auf. Der Suizid einer nahestehenden Person ist immer etwas trauriges, aber vor allem bei sehr jungen Menschen sind Erschütterung und Unverständnis groß. Die Eltern dieser jungen Menschen bleiben oft verzweifelt zurück und Schuldgefühle entstehen.

Im Jahr 2014 haben sich 501 Menschen unter 25 Jahren suizidiert. Suizid ist somit die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe. Im Alter von Pubertät und Adoleszenz findet eine Ablösung von den Eltern statt. Jugendliche wollen selbstständig und erwachsen werden. Die Meinung der Eltern verliert an Bedeutung und die Relevanz der peer group steigt. Die peer group wird im deutschen Sprachgebrauch als eine Gruppierung von Gleichrangigen bezeichnet, also der Freundeskreis eines/r Jugendlichen. Berücksichtigt man diesen entscheidenden Aspekt, wundert es nicht, dass Eltern oft wenig über die Probleme ihrer Kinder wissen. Hinzu kommt, dass das Thema Suizid in der deutschen Gesellschaft tabuisiert wird. Auch die Thematik der psychischen Erkrankungen wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Betroffene haben Angst als „irre“ oder „gestört“ abgestempelt zu werden, sodass die Hemmschwelle für einen Beratungs- oder Arzttermin sehr hoch sind. Bei der Äußerung von Suizidgedanken besteht zusätzlich die Gefahr einer Zwangseinweisung.

 

Ist mein Kind betroffen?

Es gibt Signale, die auf eine Suizidalität hinweisen können. Typisch für eine Suizidgefährdung ist beispielweise das Abkapseln von Freunden und der Familie. Auch Veränderte Schlaf- und Essgewohnheiten sowie ein selbstgefährdender Lebensstil können auf Suizidgedanken hinweisen. Weitere Signale sind:

  • Depression / andere psychische Belastungen
  • Hoffnungslosigkeit
  • Lebensverneinende Äußerungen
  • vorangegangene Suizidversuche
  • Die Aufgabe von Hobbys und Freizeitaktivitäten
  • Das Verschenken persönlicher und wertvoller Sachen

Generell gilt: Wenn sie sich unsicher sind, seien sie mutig und fragen nach. Entgegen vieler Behauptungen verstärken sie den Suizidwunsch nicht, wenn sie das Thema ansprechen. Betroffene sind sogar eher froh darüber. Das Thema ist dann geöffnet und Scham- und Angstgefühle können so gesenkt werden. Wenn Sie nun an diesem Punkt angekommen sind, sollten sie einige Dinge im Gespräch beachten. Versuchen sie nicht zu be- und verurteilen oder gar zu ermahnen. Zusätzlicher Druck ist für Betroffene nicht förderlich. Generell gilt: geduldig und aufmerksam zuhören. Fragen sie außerdem nach konkreten Suizidplänen, damit sie die Situation einschätzen können. Sie können ebenfalls ihre Hilfe anbieten; beispielsweise durch weitere Gespräche oder der Suche nach Hilfeinstitutionen (Beratungsstellen, Ärzte, Psychologen o.Ä.). Wichtig hierbei ist: Versprechen sie nichts, was sie nicht halten können. Weitere Enttäuschungen sind für Betroffene oft schwierig auszuhalten. Ein ehrlicher und offener Umgang ist gefragt. Ebenso relevant ist, dass sie einen Ansprechpartner haben, mit dem sie über ihre Gefühle sprechen können. Auch hierfür gibt es Beratungsstellen.

 

 

Mailberatung und Suizidprävention

Mit der Verbreitung des Internets haben sich die ersten Formen der Onlineberatung entwickelt. In Chats, Foren oder per Mail nehmen Menschen die verschiedensten Angebote wahr. So auch 2002 in Freiburg. Über eine Mailadresse konnten sich Menschen bis zum Alter von  25 Jahren in Lebenskrisen und mit Suizidgedanken an den Arbeits-Kreis-Leben wenden. So ist der Standort [U25] Freiburg entstanden.

Heute hat [U25] mit Gelsenkirchen Berlin, Hamburg, Dresden, Biberach, Dortmund, Paderborn, Nürnberg und dem Emsland neun weitere Standorte in ganz Deutschland. Es gibt eigene Websites und Profile in sozialen Netzwerken. [U25] hat sich entwickelt, aber eines ist gleich geblieben: die Mailberatung.
Mailberatung ist asynchron, also verläuft zeitlich versetzt. Berater sowie Klient haben Zeit zu überlegen, zu korrigieren und zu reflektieren. Vor allem für unsere Klienten wirkt diese Entschleunigung nachweislich suizidpräventiv. Bis heute sind Bedarf und Nachfrage enorm, aber wieso ist das so?

 

Distanz schafft Nähe

[U25] ermöglicht den Klienten anonym Hilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Unter einem Pseudonym können sich Betroffene im Beratungssystem anmelden. Alle angefragten Daten sind freiwillig anzugeben. Eine Pflicht besteht nicht. Die so geschaffene Niederschwelligkeit wird durch den Datenschutz verstärkt. Es werden keine IP-Adressen gespeichert und Daten können nicht zurückverfolgt werden. Klienten können somit frei mit ihren Gedanken und Gefühlen umgehen, ganz ohne Konsequenzen zu fürchten. Neben der einfachen Registrierung ist auch zeitliche und örtliche Flexibilität ein Vorteil der Onlineberatung. Diese Anonymität bietet Klienten viele Vorteile, gegenüber einer klassischen face-to-face Beratung. Scham und Angstgefühle sind nicht so hoch, da einzig der geschriebene Text an die Berater übermittelt wird. Mimik und Gestik werden nicht nach Außen getragen. Des Weiteren können Klient*innen entscheiden, was sie von sich preisgeben und Texte vor dem Absenden korrigieren. Sie reflektieren somit ihre eigene Problematik und setzten sich konstruktiv mit belastenden Themen auseinander. Die anfängliche Distanz der Onlineberatung schafft somit eine Nähe, welche der Klient einen Schutzraum für ihr Anliegen bietet.

 

 

Jugendliche beraten Jugendliche

In diesem Schutzraum begegnet die Klienten dann den Berater von [U25]. Diese sind jedoch keine Fachkräfte, wie Sozialarbeiter oder Psychologen, sondern ebenfalls Jugendliche im Alter von 16-25 Jahren. Jugendliche beraten also Jugendliche. Da sich Berater und Klient oftmals im selben Alter befinden, gibt es oft Überschneidungen der Lebenswelt. Problemstellungen, Ängste, Gefühle und Gedanken können besser nachvollzogen werden, da die Berater*innen ähnliche Situationen kennen. Somit ergibt sich ein Verständnis für Klient und das auf eine andere Art als in herkömmlichen Beratungen. Der Klient wird so akzeptiert, wie sie ist. Ressourcenorientierte Gesprächsführung bringt der Klient Wertschätzung entgegen. Diese ist den Klient oftmals fremd, da sie ihre Probleme oft für sich behalten und aus Angst und Scham nicht mit Familie oder Freunden darüber sprechen. Die Berater von [U25] erhalten eine circa sechsmonatige fundierte Ausbildung. In dieser Ausbildung werden ihnen Kompetenzen in den Bereichen Suizid, psychische Erkrankungen, Onlineberatung und Selbsterfahrung beigebracht, sodass sie in der Lage sind, kompetent zu beraten.

 

 

Suizid darf kein Tabu sein

Neben der Onlineberatung ist die Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit ein weiterer Bestandteil der Aufgaben von [U25] Gelsenkirchen. Das Thema Suizid muss enttabuisiert werden. Es betrifft die Mitte der Gesellschaft und dort muss es auch hin. Betroffene müssen Plattformen bekommen, aufgrund derer sie offen über ihre Gefühle und Probleme reden können. Natürlich müssen auch dann wirksame Hilfsangebote bereitstehen. Präventionsprojekte wie [U25] und viele andere brauchen also stärkere Unterstützung. Durch den Staat sowie durch das Gesundheitssystem. Diese Hilfen laufen zwar langsam an, jedoch reicht das nicht aus.

Statistisch gesehen, gibt es alle 5 Minuten einen Suizidversuch in Deutschland und alle 52 Minuten eine/n Suizidtote/n.Durch verschiedene Aktionen versucht [U25] auf diverse Missstände aufmerksam zu machen und eine positive Entwicklung der Hilfsangebote zu fördern. Der 10.09., der Welttag der Suizidprävention, ist ein klassisches Beispiel hierfür. Durch Flashmobs, Informationsstände, Pressetexte und Aktivitäten in den sozialen Medien wird auf die Thematik Suizid aufmerksam gemacht.

 

 

Zum Autor

Niko Brockerhoff, 22 Jahre alt, hat seine Ausbildung als staatlich anerkannter Erzieher gemacht und studiert zur Zeit im 5. Fachsemester „Soziale Arbeit“. Gleichzeitig ist er Referent für das sexualpädagogische Schutzkonzept Gelsenkirchen und war dort bis 2016 ehrenamtlicher Berater. Seit Mai 2016 organisiert er die Standortleitung des Präventionsprojektes [U25] Deutschland in Gelsenkirchen.

Links:
Website:  www.u25-gelsenkirchen.de
facebook: www.facebook.com/u25gelsenkirchen

Instagram: www.instagram.com/u25gelsenkirchen

SZ-Artikel www.sueddeutsche.de/leben/praevention-du-musst-dich-zusammenreissen-so-ein-satz-geht-bei-uns-gar-nicht-1.3663499