leselust-statt-lesefrust-eine-nationale-aufgabe
© simonapilolla/iStock.com

Leselust statt Lesefrust – Lesen eine nationale Aufgabe

Ich war ein echter Bücherwurm und bin in die Welt und die Geschichten meiner Buchhelden damals versunken. Buchstaben wurden zu Bildern – das berühmte Kino im Kopf. Mein Sohn hingegen interessierten Bücher wenig. Er verliert sich gefühlt seit Stunden beim Daddeln mit seinen Schulfreunden. Bei dem Versuch, ihn dabei zu unterbrechen, war die Reaktion ähnlich so, als wenn ich ihn vorzeitig von einer Party abhole und er etwas verpasst…

 

Er ist damit nicht allein. Viele verlieren sich in sozialen Netzwerken, beim Computerspielen usw. Weniger als die Hälfte der 15 Jahre alten Schüler in Deutschland gibt an, nicht zum Vergnügen zu lesen. Mehr als ein Drittel halten Lesen gar für eine Zeitverschwendung.

Das Leitziel an Schulen seit dem Pisa-Schock

Der mit den Bildungsstandards von 2004 eingeführte Begriff der Kompetenz wurde durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) mittels ihrer PISA-Studien als neues Leitziel von Schule durchgesetzt.

Die Pisa Sonderauswertung der OECD zum digitalen Lesen zeigte 2018, dass trotz aller Kompetenz- und Ergebnisorientierung die Testergebnisse selbst bei den grundlegendsten aller Kompetenzen, dem Lesen, immer noch weiter nachlassen. Die Freude daran hat zwischen 2009 und 2018 stark abgenommen, wie in kaum einem anderen Land. Jeder fünfte Schüler hat große Mühe, Texte zu lesen und zu verstehen. Besonders in bildungsfernen Familien. Jungen sind stärker als Mädchen betroffen.

Noch geringer als in Deutschland ist die Freude am Lesen nur in den Niederlanden, Norwegen, Belgien und Dänemark. Nur den Finnen und Estländern gelingt das, was hier misslingt. Dort lesen ¾ der 15 Jahre alten Jugendlichen noch Bücher mit über hundert Seiten.

Ursachen für die Leseunlust

Könnte es eventuell sein, dass veraltete Unterrichtsmethoden und falsche Bücher der Grund sind? Lernziele und Lernformen haben sich in einem Schulsystem, das auf ‚Output-orientierten Lernen‘ angelegt ist, seit den neuen Bildungsstandards verändert. Im Vordergrund steht heute der Erwerb von Kompetenzen, das Stoffpauken verlor an Bedeutung. Es geht nicht mehr um die Sachen oder Inhalte selbst, sondern nur noch darum, inwiefern die uns nützen können und um Problemlösungen. Den Schülern wird die Möglichkeit genommen, sich für Inhalte zu interessieren oder gar davon fasziniert zu sein. Ein wesentlicher Baustein der Persönlichkeitsentwicklung geht dadurch verloren.

Es wird nicht nach dem Verständnis gefragt, nicht Urteils- und Kritikfähigkeit gefordert, sondern die Fähigkeit, Gelerntes auf vorgegebene, in den Tests relativ einfache, künstliche Problemlösungen anzuwenden. Diese Kompetenzorientierung führt dazu, dass die Schüler inhaltlich fast nichts mehr lernen. Wozu soll ich mir heute Wissen aneignen, das morgen schon wieder veraltet ist?

Sie sind zwar durchaus bereit zu lesen, sofern dies einen Nutzen im Wettbewerb schafft. Der Wert zu lesen, jenseits der unbedingt nötigen Informationsbeschaffung, verliert jedoch an Wert. Im Zuge dessen geht die Kompetenzorientierung zu Lasten von Wissensvermittlung in der Schule.

Konsequenzen aus der Leseunlust

Eine Kompetenz aber, die sich erklärtermaßen selbst genügt, wird als Pflicht akzeptiert – einen vitalen Antrieb zur eigenen Anstrengung entfacht sie aber nicht. Besonders, wenn sie auf größere soziale, familiäre oder biographische Hindernisse stößt. In einem bestimmten Alter haben die Schüler die unausgesprochenen Vorgaben des Systems anscheinend so begriffen und verinnerlicht, dass sie den Spaß, den ihnen die Lektüre von Büchern vielleicht noch im Grundschulalter gemacht hat, nachlässt und verschwindet.

Ohne aber zu wissen, warum sich Lesen überhaupt lohnen könnte, ist die Lesekompetenz schwer zu bewältigen.

Ein Teufelskreis aus Leseunlust und Lesefähigkeit. Sie sind nicht in der Lage, in Texten Fakten und Meinungen zu unterscheiden bzw. subjektiv oder voreingenommene Texte zu erkennen. Die Fähigkeit, mit digitalen Quellen umzugehen oder gezielt zu recherchieren, nimmt besonders bei Kindern aus sozial schwachen Familien oder mit Zuwanderungshintergrund enorm ab.

Frühe Förderung nicht ausreichend

Die Menschheit hat Jahrtausende gebraucht, um die Schriftsprache zu entwickeln. Wir erwarten jedoch, dass ein Kind dies in zwei Jahren lernt? Es ist eine konstante Anforderung, die im frühen Stadion begonnen werden sollte.

Maßnahmen wie Lesewettbewerbe, Lesepatenschaften, Kooperationen mit Bibliotheken und Ähnliches waren nach dem Pisa-Schock vor 20 Jahren offensichtlich nicht langfristig wirksam. In Grundschulen wird die intrinsische Lesemotivation noch gefördert, die Freude am Lesen selbst. Im internationalen Vergleich wird aber insgesamt zu wenig in der Grundschule gelesen. Zudem gilt hier „One size fits all“. Die Klasse liest im Deutschunterricht ein Buch gemeinsam. Meist eins, welches nur wenige Kinder interessiert. Das funktioniert nicht. Die Lust am Lesen wird den Schülern in der Schule so eher ausgetrieben als vermittelt. Im Alter von 11. Jahren gibt es bekanntermaßen einen ‚Leseknick‘ und gerade dann fehlt es an wirksamen Programmen bzw. Lesestoff, die die Lesefreude steigern.

Eine Lückenlose Leseförderung muss zudem mit systematischer Sprachförderung im Kindergarten beginnen. Lesen lernen ist eine der komplexesten kognitiven Aufgaben überhaupt. Wer nicht gut liest, liest nicht gern.

Verschärfung durch die Pandemie

In der Pandemie sind die Bildschirmzeiten der Jugend gestiegen. Smartphone und Co waren eine reale Ablenkung und ein Weg, Kontakte zur Peergroup virtuell aufrecht zu erhalten oder um leere Zeiten zu füllen.

Das Internet hat am Ende die soziale Schere bei der Lesekompetenz noch mehr geöffnet und verschärft. Die digitalen Medien können zusätzlich zur Gefahr für die Lesekompetenz werden. Wer nicht analog liest, geht in den Informationsfluten des Internets unter.

Was müsste die Politik also tun?

Nicht wenigen Verantwortlichen wird mittlerweile klar, dass sie den Zug vielleicht in die falsche Richtung bewegt haben. Wir müssen wieder das Fachliche stärken, hören wir zunehmend. Natürlich wird kein Politiker öffentlich eingestehen, dass er auf das falsche Pferd gesetzt hat. Aber in den Schulen ist die Kompetenzorientierung bereits weitgehend im Lehrerbewusstsein als eine gescheiterte Reform abgelegt.

In Zeiten von Fake News und Populismus wird die Gefahr immer größer, dass unsere Kinder sich nicht eigenständig Informationen aneignen oder nicht zwischen Tatsachen und Meinungen unterscheiden können. Wenn wir nicht unsere Demokratie gefährden wollen, dann sollte die Bildungspolitik in Bund und Ländern eine entschiedene und nachhaltige Förderung der Lesekompetenz bei Kindern durchsetzen. Oder anders ausgedrückt: Ein Plädoyer für das Lesen gedruckter Bücher.

 

Fazit: Man muss nur wissen, wo es steht? Nein! Ziel sollte es sein, beim Lesen eines Textes – ob digital oder analog – diesen zu verstehen. Ein wichtiger Schritt für einen gelingenden Meinungsbildungsprozess in einer lebendigen Demokratie. Wer nichts mehr weiß, der kann auch nichts und ist zudem darauf angewiesen, dass andere ihm sagen, was richtig ist.