© iStock-LightFieldStudios

Lesen – Eine Reise in eine andere Welt

Es gibt Bilderbücher mit Fingerlöchern und solche aus Stoff mit Spiegeln und Knisterseiten. Vom Grüffelo über Astrid Lindgren bis hin zur Fantasy-Saga – jahrelang las ich unseren Kindern vor. Denn es heißt, dass Vorlesen das Beste sei, was man für ihre Entwicklung tun könne. Zweifellos galt und gilt es immer noch, die Freude am Buch so früh wie möglich zu vermitteln.

Es schien lange Zeit nur eine verbreitete Art des Lesens gegeben zu haben – das laute Lesen, allein oder mit Zuhörern. Die Fähigkeit von Geschichtenerzählern, andere mit ihren Erzählungen zu fesseln, ist beinahe so alt wie das Fährtenlesen. Vor über 1600 Jahren bemerkte einer der bedeutenden Denker des frühen Christentums, Augustinus, etwas Eigenartiges: Er beobachtete, wie Ambrosius, der Bischof von Mailand, leise las. „Seine Augen überflogen die Seiten, und sein Herz erfasste die Bedeutung“, schrieb Augustinus. Besser kann man wohl auch heute noch nicht beschreiben, was beim leisen Lesen geschieht.

Was in unserem Kopf passiert, wenn wir lesen

Worte besitzen eine unermessliche Kraft. Sie erschaffen innere Bilder in unseren Köpfen und wecken unsere Vorstellungskraft. Warum können wir uns so genau das Aussehen einer Buchfigur vorstellen, selbst wenn es kein Bild von ihr gibt und sie nicht ausführlich beschrieben wird? Die richtigen Bücher transportieren uns augenblicklich an einen Ort weit entfernt vom Alltagsstress – in Fantasywelten, in denen wir Hexen, Magiern, Drachen, Helden, magischen Planeten und exotischen Welten begegnen.

Jeder, der gerne in Büchern versinkt, kennt dieses Phänomen, und in der Regel stört es uns nicht: Wir haben eine präzise Vorstellung vom Erscheinungsbild einer Figur, der Einrichtung eines Raumes, einer Szene oder Landschaft – und das, ohne jemals ein Bild davon gesehen zu haben oder eine ausführliche Beschreibung in der Geschichte erhalten zu haben. Oft wird uns das erst bewusst, wenn wir sehen, wie jemand anderes es sich vorstellt: wenn jemand ein Bild davon malt oder es genau beschreibt – oder wenn wir einen Film sehen, der auf dem Buch basiert.

Filmregisseure stehen meist vor der Herausforderung, alles im Detail zu entwerfen: Wie unterscheiden sich die Zauberstäbe in „Harry Potter“? Wie ist Bilbo Beutlins Zuhause gestaltet? Und wie sieht Mr. Curry aus, der mürrische Nachbar der Familie Brown aus den „Paddington“-Geschichten? Wie klingt seine Stimme? Sie beschäftigen eine Vielzahl von Kostümbildnern, Requisiteuren und Ausstattern, wählen ihre Schauspieler sorgfältig aus – und hören trotzdem immer wieder: „Das ist aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte!“

Beim Lesen benötigen wir nicht viel, um zu glauben, dass man alles kennt, weiß und gesehen hat. Das liegt daran, dass unsere Vorstellungskraft beim Lesen auf Hochtouren läuft: Wir betrachten ein paar der nicht einmal dreißig Buchstaben unseres Alphabets hintereinander und dann wieder ein paar in einer anderen Reihenfolge, mit einem kleinen Zwischenraum dazwischen. Und für diejenigen, die lesen können, ergibt dieses eigentlich recht seltsame Zusammenspiel von Zeichen Sinn!

Grundpfeiler der Bildung

Lesen fördert die Konzentration und erweitert den Wortschatz. Eine gute Lesekompetenz ist entscheidend für den schulischen Erfolg.

Ihr Kind erwirbt einen Großteil seines Wissens durch das Lesen von Büchern. Lesen, Schreiben und Rechnen gelten als die Grundpfeiler der Bildung. Daher wird die Lesekompetenz regelmäßig in Vergleichsstudien wie PISA erfasst. Umso wichtiger ist es, dass Ihr Kind das Lesen frühzeitig als etwas Natürliches ansieht und sich selbstständig dazu motiviert zu lesen, weil es mehr erfahren möchte.

Lesekompetenz und Lesemotivation gehen Hand in Hand

In den meisten Fällen entscheiden andere, was Kinder wann und wo zu lesen haben.

Und der Weg zum Lesen führt über Bilder. Bei den Kleinsten sowieso, aber auch bei Grundschulkindern. Ja, und es gibt ihn wirklich, den „vorpubertär vorhandenen Gendergap“, nach dem acht- bis zehnjährige Jungs weniger gut und weniger gerne lesen als gleich alte Mädchen. Damit die Leselust besonders bei Jungs entfacht wird, ist die Buchauswahl entscheidend. Hierfür sind Comics fantastisch, so wie beispielsweise ‚Gregs Tagebuch’. Denn anders als manche Mütter und Väter denken, schauten sich Kinder nicht nur die Bilder an. Das wird viel zu schnell langweilig. Und Schrift macht neugierig.

Wie in vielen Familien brachte Harry Potter bei den älteren Kindern den Durchbruch: So schnell, wie es vorwärtsgehen sollte mit der Geschichte, konnten sie kaum lesen.

Hat ein Kind erst einmal die Kriegerkatzen aus ‚Warrior Cats‘ entdeckt, muss sich niemand mehr Gedanken über Lesekompetenz machen. Serien machen süchtig. Während sich Erwachsenen die Faszination der Fantasy-Serie über die in Clans lebenden Katzen nicht unbedingt erschließt, hat das pure Lesen lernen dank des Serien-Effekts funktioniert. Das Kind ist schon im nächsten Stadium oder auf dem besten Weg dorthin. Es versteht nicht nur, was es liest. Sondern es kann auch einordnen und bewerten, was in einem Text steht.

Mit dem richtigen Buch gelingt es Ihnen, fast jedes Kind zu begeistern.

Und dann war Schluss 

Unsere Kinder hängen längst am Smartphone. Als sie in die Pubertät kamen, habe ich Ihnen in einem Anfall von Putzfimmel oft die Staubschichten von den Büchern gewischt, die seit Jahren auf derselben Seite beim Lesen hängen geblieben waren. Dann wurde ausgemistet. Ein Sofa, ein Smartphone und irgendwann ein Gaming-PC dazu. Was braucht ein Jugendlicher im 21. Jahrhundert mehr? Ich wüsste da natürlich etwas…

Mit meiner Angst, dass diese Teenager verblöden, setzte ich verschiedene Druckmittel ein wie das Reduzieren der Zockerzeiten oder das Abschalten des WLANs. Dabei ist die Sorge, dass Internet und Smartphone Bücher ignorierende Banausen hervorbringen, unbegründet.

War es bei uns nicht ähnlich? Ganze Wochenenden habe ich mich in Pferde- und Internatsgeschichten verloren. Irgendwann war das reale Leben interessanter.

Warum soll man annehmen, dass Kinder dumm werden?

Natürlich haben wir die aktuelle Pisa-Studie mit den besorgniserregenden Ergebnissen für die Lesekompetenz deutscher Schüler vor Augen. Jeder vierte Viertklässler liest so schlecht, dass er am Ende eines Satzes nicht mehr weiß, wie der Satz begonnen hat. Bei den 15-Jährigen ist jeder Vierte nicht in der Lage, Sinn aus Texten zu entnehmen. Selbst bei den Erwachsenen können immerhin zwölf Prozent nicht ausreichend lesen und schreiben.

Alltagslesefähigkeit – Lesen in und mit digitalen Medien

Snapchat und Youtube mögen beliebt sein und die Angst der Eltern vor zu viel Social Media, aber der Anteil der (Buch-) Leser in Deutschland ist seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts mit geringfügigen Schwankungen konstant geblieben. Lediglich die Lesedauer nimmt ab.

Zudem herrscht die Vorstellung vor, dass Lesen vor allem mit guten Büchern und Literatur zu tun hat. Doch Lesekompetenz umfasst auch das Lesen im Alltag und auf Bildschirmen. Im Internet müssen wir uns orientieren und Informationen finden. Gerade im digitalen Raum ist eine beträchtliche Alltagslesefähigkeit erforderlich. Digitale Texte unterscheiden sich oft von gedruckten Texten, was zusätzliche digitalbezogene Kompetenzen für das Lesen in digitalen Medien erforderlich macht. Sie sind vernetzt mit anderen digitalen Inhalten über Links, können Videos oder Audioaufnahmen enthalten, zusätzliche Informationen liefern und zur Interaktion anregen.

Noch nie zuvor haben Menschen so viel gelesen wie heute – sei es über den Tag verteilt durch E-Mails, Textnachrichten oder das permanente Googeln. Es geht jedoch weit über simples Wischen, Tippen und Sprachbefehle geben hinaus, um eine kunterbunte Unterhaltung zu führen.

Das eigentliche Problem liegt nicht in der Konkurrenz digitaler Medien, sondern in den Zugangsvoraussetzungen eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung zum Lesen: Viele Menschen fehlt es an grundlegenden Lesekompetenzen. Um den Teufelskreis aus unzureichenden Lesekompetenzen und Bildungsbenachteiligung zu durchbrechen, ist eine flächendeckende und niedrigschwellige Förderung von Lesekompetenz notwendig, verbunden mit einer ebenso wichtigen Förderung von Lesefreude und Lesemotivation.

Die Rückkehr des Lesens – Booktok

Übrigens: Der Anstoß einer neuen Lesebegeisterung kommt aus einer Ecke, die wir nicht vermutet hätten: Apps wie TikTok und Instagram haben sich längst zu Plattformen der Literaturvermittlung entwickelt. Unter jüngeren Nutzern wird das Buchlesen dort wie eine Party gefeiert. Sie empfehlen Bücher, präsentieren stolz ihre Lektüren oder ihre Lesewünsche, schwärmen, jubeln und teilen ihre Leidenschaft mit Gleichgesinnten. Diese Gemeinschaft wächst stetig und hat eine enorme Reichweite.

 

FAZIT: Frühes und langes Vorlesen fördert den Wortschatz, die Sprachkompetenz, das Selberlesen und sogar die Empathie. Wir haben wohl alles richtiggemacht.

Jetzt ist es an der Zeit zu vertrauen.