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Wie wir es schaffen, Weihnachten mit der Familie harmonisch zu verleben

Familienzoff an Weihnachten – alle Jahre wieder kracht es unterm Baum, obwohl Streiten, vor allem am Fest der Liebe, für die meisten furchtbar ist. Wir verraten euch, warum Streit mit der Familie an Weihnachten völlig normal ist und wie ihr konstruktiv mit Konflikten umgehen könnt.

An den Feiertagen wiederholen sich vertraute Verhaltensmuster

Ein bemerkenswertes Phänomen: Das jährliche Weihnachtstreffen beginnt mit begeistertem „Wie schön, dass wir uns alle mal wiedersehen!“, geht jedoch im Verlauf in kleine Sticheleien über und kulminiert spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag in einem ausgewachsenen Konflikt, der fast so traditionell ist wie Omas Weihnachtsklöße.

Warum verhalten sich so viele Erwachsene plötzlich wie bockige Kleinkinder, sobald sie eine Nacht in ihrem alten Kinderzimmer verbracht haben? Und warum holen Papa und Mama die alten Streitthemen hervor, die ohnehin nie gelöst werden können?!

Man glaubt, man sei erwachsen. Doch kaum ist Weihnachten, fallen alle Familienmitglieder in alte Verhaltensmuster zurück. Warum das so ist, bleibt eine faszinierende Frage.

Das Familientreffen zu Weihnachten birgt ein beträchtliches Potenzial für Enttäuschungen

Besonders zu Weihnachten besteht tatsächlich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen und wieder in die Kindrolle zu schlüpfen. Ein Art Autopilot wird aktiviert: Geschwister können erneut nerven, der Vater übernimmt vielleicht wieder die Rolle des Besserwissers, und die Mutter agiert so herrisch wie in alten Zeiten. Man gerät automatisch in die gleiche Rolle, die man im Verlauf der kindlichen und jugendlichen Entwicklung erlernt hat und die einem vertraut ist. Dieses Vertraute bleibt uns stets sehr nahe – leider auch dann, wenn es eigentlich nicht förderlich für unser Wohlbefinden ist.

Was sind die Quellen dieses Autopiloten?

Eine dieser Quellen sind frustrierte Grundbedürfnisse aus unserer Kindheit und Jugend. Auch die Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung und Kompromissfindung werden innerhalb der Familie erworben. Die Eltern beeinflussen den Umgang mit Konflikten und zeigen vor, wie diese gelöst werden sollten. Kinder übernehmen dieses vorgelebte Verhalten bereits im Kleinkindalter und reproduzieren es später ebenfalls.

Und dann wiederholt sich das Drama an denselben Stellen?

Es ist zumindest als Erwachsener weitaus schwieriger, aus diesen Mustern auszubrechen. So kommt es häufig vor, dass Familien mit guten Vorsätzen am Weihnachtstisch Platz nehmen, nur um am Ende doch wieder in ihre alten Konfliktmuster zu verfallen.

Weihnachten scheint jedoch besonders anfällig für Unstimmigkeiten zu sein. Warum? Das Familientreffen zu Weihnachten birgt ein hohes Potenzial für Enttäuschungen, denn die Feiertage sind kulturell überhöht. Ein romantisches Ideal von Weihnachten prägt unsere Vorstellung. Die Familie soll glücklich sein, in Harmonie zusammenstehen und sich gemeinsam freuen. Alles, was im Alltag zu kurz kommt, soll an Weihnachten auf magische Weise gelingen. Wir hegen die Hoffnung auf Überraschungen, mit denen wir unsere Lieben erfreuen können. Wir wünschen uns liebevolle Gesten und eine zauberhafte Zeit. Das sind hohe Erwartungen, die leicht in große Enttäuschungen umschlagen können.

Sind wir dann trauriger?

Zumindest macht man sich verletzlicher. Wenn dann ein Familienmitglied einen empfindlichen Punkt trifft, wird auch die Hoffnung auf Harmonie schwerwiegend erschüttert. Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt, der meiner Meinung nach entscheidend für Familienstreitigkeiten an Weihnachten ist: die verschiedenen Altersgruppen, die hier aufeinandertreffen.

Warum ist die Wahrscheinlichkeit für Streit höher, wenn mehrere Generationen aufeinandertreffen?

In den letzten Jahren zeigt sich verstärkt, dass die verschiedenen Generationen vermehrt an ihren individuellen Standpunkten festhalten. Es findet nur begrenzt ein Austausch statt, was es umso schwieriger macht, über die unterschiedlichen Generationen hinweg – vom Enkel bis zur Uroma – einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Das Einnehmen der Perspektive des Anderen ist jedoch essenziell, um einen kooperativen und konstruktiven Austausch zu ermöglichen. Dieses Problem ist im Freundeskreis in der Regel weniger präsent, da dort oft Menschen aufeinandertreffen, die bereits ähnliche Ansichten und Interessen teilen.

Je mehr wir runterschlucken, desto größer wird der Wunsch nach einem Ventil

Häufig gelingt es, den ersten Abend in fröhlicher Stimmung zu verbringen. Erst an den folgenden Tagen, insbesondere am zweiten oder dritten Tag, steigt der alte Groll wieder auf. Warum tritt diese zeitliche Verzögerung auf?

Als Erwachsener kann man sich oft für eine Weile zusammenreißen oder über gewisse Verhaltensweisen der Eltern hinwegsehen. Je mehr wir jedoch schlucken, desto stärker wächst der Drang nach einem Auslassventil. Daher kommt es nach einer gewissen Zeit in Familien mit begrenzter Konfliktfähigkeit oder dem Wunsch nach „Zwangsharmonie“ doch zu einer Art Explosion.

Worüber drehen sich diese familiären Auseinandersetzungen?

Im Grunde genommen geht es um verletzte Grundbedürfnisse, die bereits in der Kindheit und Jugend frustriert wurden. Das können mangelnde Anerkennung seitens der Eltern, ein Mangel an Solidarität oder auch ein Bedürfnis nach Autonomie sein, das nie ernsthaft berücksichtigt wurde. Wenn wir beispielsweise als Kind das Gefühl hatten, dass unsere Leistungen nie ausreichend anerkannt wurden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Desinteresse an unserem aktuellen Job in uns Wut auslöst. Das liegt daran, dass dieser psychologische Grundkonflikt nie wirklich gelöst wurde.

Kann man sich gegen Familienstreit an Weihnachten wappnen?

Für diejenigen, die feststellen, dass sie immer wieder in ähnliche Muster verfallen und darunter leiden, insbesondere in Konfliktsituationen, kann eine Therapie von Nutzen sein. Doch wenn es speziell um die Weihnachtszeit geht, gibt es auch im Vorfeld Möglichkeiten zur Vorbereitung. Wenn beispielsweise klar ist, dass ein bestimmtes Thema regelmäßig zu Streit führt, könnte es durchaus sinnvoll sein, im Vorfeld mit der Familie zu vereinbaren, dass diese Debatte an Weihnachten tabu ist. Man kann sich auch das Recht vorbehalten, sich bei Aufkommen des Themas auszuklinken oder einzugreifen. Zur Konfliktlösung gehört es ebenso, eine Entschuldigung annehmen zu können und nicht bockig zu reagieren.

Spannend. Weitere Ratschläge?

Es ist ratsam, sich bereits vor Weihnachten zu überlegen, welche möglichen Kränkungen auftreten könnten und wie man sich dagegen wappnen kann. Auf diese Weise reagiert man in der Situation entspannter und gerät nicht sofort in den Strudel kindheitsbedingter Reaktionen, bei dem man möglicherweise unüberlegt kontert. Es ist auch hilfreich, sich zu überlegen: Gibt es in meiner Familie ein positiv besetztes Thema? Worauf freuen wir uns alle? In einem kritischen Moment kann man dann darauf umschwenken – oder man zaubert ein von allen geliebtes Brettspiel hervor und schafft anstelle eines Streits einen gemeinsamen Moment, der für alle angenehm und vertraut ist.

Und falls einem die Familie dennoch zu viel wird?

In solchen Momenten ist es oft ratsamer, sich kurzzeitig zu entfernen und einen kurzen Spaziergang um den Block zu machen, anstatt abzuwarten, bis die Wut immer größer wird. Es gibt Menschen, die im Laufe ihres Lebens gelernt haben, dass sie gerne allein sind, und das gemeinsame Zusammensein im erweiterten Familienkreis als zu beengt und stressig empfinden. In solchen Fällen wäre es hilfreich, bereits im Vorfeld klar anzukündigen: „Ich freue mich auf Weihnachten und bin gerne dabei. Aber bitte versteht es nicht falsch, wenn ich mich zwischendurch zurückziehe.“ Auf diese Weise sind alle darüber informiert.

Was tun, wenn der Zoff bereits da ist?

Wenn man eine Äußerung getätigt hat, die beim Gegenüber falsch angekommen ist oder man ihn möglicherweise sogar absichtlich provoziert hat, ist es wichtig, sich in der Kunst der Entschuldigung zu üben. Das gestaltet sich oft schwieriger, als man denkt. Zur effektiven Konfliktlösung gehört jedoch auch die Fähigkeit, eine Entschuldigung anzunehmen und nicht stur zu reagieren. Das sind Fertigkeiten, die jeder erst erlernen muss. Wenn eine derartige Kommunikation gelingt, ist bereits ein großer Schritt getan. Konflikte an sich sind nicht zwangsläufig problematisch. Im Gegenteil: Wenn die entsprechende Fähigkeit zur Konfliktbewältigung und Kompromissbereitschaft vorhanden ist, können sie sogar heilsam sein…

 

Ich wünsche Ihnen ein ruhiges und harmonisches Weihnachtsfest mit Ihren Lieben sowie einen guten Rutsch ins neue Jahr!